Frederico Füllgraf, Santiago de Chile, für Mundus maris

Mit seinen 4.000 Kilometern Küste, ist Chile vor Japan die sechstgrößte Fischereiwirtschaft der Welt, doch drittgrößter Weltproduzent von Zuchtlachsen. Das industriell geführte salmon farming konzentriert sich auf die Küste des chilenischen Patagonien mit einer Ausdehnung von 19.893 Hektar vom Staat konzidierter Seegewässern und jährlichen Umsätzen von zwei Milliarden Euro. Spätestens seit 2008 steht die Lachszucht in Chile jedoch im Kreuzfeuer der Kritik.

Der Regierung wird unzulässige Toleranz bei der Umgehung der ohnehin laschen Umweltgesetzte vorgeworfen, die transnationalen Konzerne wegen unökologischer Bewirtschaftung, der systematischen Verseuchung der südchilenischen See mit Viren, Hormonen und Industrieabfällen kritisiert – ein Handlungsszenario wider die Nachhaltigkeit, das auf der Seekonferenz "Our Ocean", vom Oktober 2015, komplett verschwiegen wurde und nun in der jüngsten Umweltkatastrophe von Chiloé gipfelt.

Nach mehrjährigem Aufenthalt in Chile - zunächst als Enwicklungshelfer, später als Journalist - wurde Wilfried Huismann auf die Lachszucht-Wirtschaft im chilenischen Patagonien aufmerksam und drehte die 2010 uraufgeführte Fernseh-Dokumentation “Lachsfieber”.

Gleich in der ersten Filmminute erfährt der Zuschauer zur Bildmontage zwischen patagonischer Freiluft-Idylle und Unterwasser-Farmen, dass in Chile bis zu 200.000 Lachse in einem einzigen Käfig zusammen gepfercht werden – das Doppelte der in Europa erlaubten Besatzquote.

Zu lichtarmen Bildern eines Tauchers, der sich auf dem verdreckten Meeresgrund Südchiles durch trübes Gewässer vorantastet, hören wir den Kommentar des chilenischen Berufstauchers Cristíán Soto: “Zerfetzte Fischnetze, Gummischläuche, Batterien, Reifen...” - Tonnen von Industriemüll mit Nahrungsresten und Fäkalien der Zuchtfische bilden ein hochgiftiges Gemisch, das “die marine Flora und Fauna tötet", warnt Soto.

Der “große Wolf”

Soto war damals Angestellter der norwegischen Firma “Marine Harvest”, im Besitz des Norwegers John Frederiksen, genannt “der große Wolf”. Mit ca. 9,0 Milliarden Euro Privatvermögen, nimmt er Platz 133 auf dem Forbes-Ranking 2016 der reichsten Männer der Welt ein.

Sein Reich ist das Meer. Ihm gehören Schiffe, Ölplattformen und Lachsfarmen”, belehrt der Filmkommentar den Zuschauer.

Doch selbst eine oberflächliche Zusatzrecherche im Internet lässt Frederiksen als schillernde Figur im Umgang mit Rechten und Pflichten erkennen: Aus steuerrechtlichen Gründen, scheint es, flüchtete er Anfang der 1990er Jahre aus seiner Heimat Norwegen, nahm zunächst die zyprische Staatsangehörigkeit an und siedelte später nach London um, deren City eng verzahnt ist mit internationalen Steueroasen. Als eiskaltem Manager gelang es ihm beispielsweise 2014, die Sanktionen gegen Russland zu unterlaufen und zwischen seiner Firma Seadrill und dem Ölgiganten Rosneft ein Milliarden-Euro-Deal auszuhandeln.

Mit der chilenischen “Marine Harvest” ist Frederiksen Eigentümer der größten Lachsfarm Südamerikas, in der Jahr für Jahr 100 Millionen Lachse für den weltweiten Export gemästet werden.

Der schleichende Tod auf dem Meeresboden

Über Sotos Warnungen waren sieben Jahre vergangen, als im Mai 2016 eine der bedrohlichsten Umweltbomben der neueren chilenischen Geschichte an der Küste der patagonischen Insel Chiloé explodierte: Eine über Kilometer breit ins offene Meer reichende, sog, “rote Flut” (marea roja) giftiger Algen führte zum Massensterben von Fischen, Krabbenarten und Muscheltieren. Sie löste Verzweiflung unter tausenden kleingewerblicher Fischer aus.

Die Katastrophe hatte folgende Vorgeschichte.

Am 4. März 2016 hatte die Generaldirektion für Hoheitsgewässer und Handelsmarine (Directemar) der chilenischen Seestreitkäfte dem Verband der Lachsindustrie (Asociación de la Industria del Salmón de Chile A.G. - kurz SalmonChile genannt) das Auskippen von 9.000 Tonnen toter Zuchtlachse in den Pazifik, vor der Küste der Seenplatte (Región de Los Lagos) im südchilenischen Patagonien genehmigt.

Der Hintergrund: Das Ersuchen von SalmonChile erfolgte nach einem Massensterben durch Erstickung von ca. 40.000 Tonnen Zuchtlachsen, am 22. Februar 2016. SalmonChile beeilte sich, die Katastrophe mit “widrigen klimatischen und ozeanografischen Bedingungen” an der Mündung des Reloncavi-Stroms in Región de Los Lagos zu begründen.

Der staatliche Dienst für Fischerei und Aquakultur (Sernapesca) erließ daraufhin einen Notfallplan.

Als Folge zäher Verhandlungen mit SalmonChile, verordnete die Regierung, die Hälfte der toten Lachsmasse an die Fischmehl-Industrie auszuliefern und ein Drittel an Land zu entsorgen. Nach ausgeschöpften Weiterverarbeitungs- und Entsorgungslösungen blieben aber noch einige tausend Tonnen toter Lachse übrig. Also beantragte SalmonChile am 3. März bei Directemar, 11.600 Tonnen toter Lachse ins offene Meer kippen zu dürfen. Die Marine-Direktion forderte daraufhin ein technisches Gutachten von Sernapesca an. Am 4. März genehmigte die Behörde die Entsorgung im Meer, mit der Begründung, die tote Lachsmasse “werde weder das ozeanische Ökosystem, noch das menschliche Leben auf See, die Seewege, sowie die Aktivitäten anderer Seebenutzer beeinträchtigen”.

Gesagt, getan: Am gleichen Tag erlaubte die Marine SalmónChile das Auskippen von angeblich “nur” 4.655 Tonnen toter Zuchtlachse in die chilenische See vor der Insel Chiloé. Die Mengenangabe ist kontrovers, andere Schätzungen – so der Umweltorganisation Terram – nennen bis zu 15.000 Tonnen.

Das gesamte Manöver – das Massensterben, die Verhandlungen und die 11 Entsorgungsfahrten mit toten Lachsen auf offene See – fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit -, insbesondere der kleingewerblichen Fischergemeinden, statt.

S.O.S. Chiloé

Zwei Monate später wurden die Küstengewässer vor Chiloé von der “roten Flut” giftiger Algen heimgesucht.

Erste Diagnose unabhängiger Wissenschaftler: Die Erstickung der Fische sei eine Folge des beschleunigten Wachstums von Algen, die nicht schnell genug von kleinen Planktontieren (Zooplankton) gefressen werden können und zu Boden sinken. Dort werden sie von Bakterien zersetzt, die dazu den gesamten Sauerstoff im Wasser aufbrauchen und so anderes Leben beeinträchtigen oder verhindern.

Das beschleunigte Wachstums der Algen sei in Wahrheit ein Symptom für Eutrophierung (Überdüngung). Da über die Hälfte des auf die Lachskäfige verteilten Fischmehls durch die Vergitterungen auf den Meeresboden falle, findet dort die Anreicherung des Fischmehls als Nahrungsüberangebot für Pflanzen und Bakterien statt. Zu den Folgen gehören anoxische Verhältnisse, also Sauerstoffschwund, der wiederum mit Phänomenen wie Massensterben zahlreicher Organismen einhergeht.

A propos Fischmehl: Die transnationale Lachszucht-Industrie verfüttert den nahrungsreichen südpazifischen Stöcker (Trachurus murphyi) in ihren Lachsfarmen. Hier sieht man die ernährungsökologische und – ökonomische - Irrationalität der hirnverbrannten Praxis: 5 Kg Stöckermehl für die Gewinnung von 1 Kg Lachsfleisch. Die chilenische Tageszeitung La Nación warnte bereits Ende 2010 vor der Überfischung und Ausrottung des Stöckers ("Sobreexplotación extingue al Jurel", 28.11.2010). Wohlgemerkt, der Stöcker ist ein ausgezeichnetes Lebensmittel zum direkten menschlichen Verbrauch.

Die Katastrophe an der Oberfläche

Am 28. April 2016 verkündete die chilenische Marine die ökologische Seenot: Vor den Stränden von Playa Grande de Cucao, Huentemó und Chanquín, des Chiloé-Archipels, drifteten bis zu 5 Kilometer breite, rotfarbene Algenkolonien. Am Rande, tote Krebse und Muscheltiere als erstes Vergiftungsindiz.

Die Massenmedien beschäftigten sich erst mit dem Phänomen, als die Zentralregierung in Santiago am 30. April die patagonische Seenplatte zum Katastrophengebiet erklärte. Zunächst nannte die Tageszeitung La Tercera "500 betroffene Familien", denen die Regierung Michelle Bachelets einen lächerlichen Notbonus von umgerechnet 140 Euro zubilligte. Nach scharfen Worten des Bürgermeisters von Chonchi, Pedro Andrade, gestanden Regierung und Medien ein, dass die Verheerung bereits seit einem Monat, also seit Ende März, mehrere tausend von der artisanalen Fischerei abhängige Menschen in Mitleidenschaft gezogen hatte.

So kam es zu Massenprotesten mit Barrikaden und brennenden Reifen auf Chiloé, die landesweite Solidarisierungswelle machte selbst vor dem Regierungspalast La Moneda nicht Halt

Umwelt- und tierfeindliche Lachszucht

Experten und Regierung hielten sich sichtbar zurück mit einer Erklärung der Ursachen. Der Berufsverband der Meeresbiologen Chiles (Colegio de Biólogos Marinos) verstieg sich dann doch zur Behauptung, es bestünde "keinerlei Zusammenhang" zwischen dem Massensterben, bzw dem Auskippen der Lachse in die See, und der Algenflut".

Hingegen, Dr. Bernd Krock, Wissenschaftler am Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, Deutschland, erklärte Ende Mai gegenüber der Deutschen Welle, dass sog. "rote Fluten" niemals auftreten ohne eine Überlagerung natürlicher und anthropogener Faktoren. Klimaveränderungen, wie die Erwärmung des Seewassers, erklären nur einen Teil der Katastrophe. Deren Überbewertung vernachlässige die Beachtung zweier zusätzlicher Aspekte: zum einen, die exzessive Nutzung der chilenischen Fjorde für die Lachszucht, zum zweiten, die zwecks rascher Mästung exzessive Verabreichung von Lachsfutter, das die Algenblüten beschleunige, darunter auch äußerst gefährlicher Organismen.

"Chiles Regierung möchte den Betrieb neuer Industrien fördern, hält sich aber zurück mit Maßnahmen, die die Wirtschaft angeblich beeinträchtigen könnten, überhäuft sich andererseits aber reihenweise mit Umweltproblemen, die das Maß des Duldbaren bei weitem überschreiten", gibt Krock zu bedenken.

Juan Carlos Cárdenas, Veterinärmediziner der NGO Ecocéanos Chile, bestätigt die Diagnose Krocks, nennt jedoch zusätzliche Fakten und geht schärfer mit der Lachs-Industrie ins Gericht:

"Die gegenwärtige Krise in Chiloé ist die Folge einer seit 25 Jahren andauernden Flächenexpansion und wilder Produktionsweise auf Raubbau-Grundlage der Lachs-Megazüchter. Ihr Bewirtschaftungsmodell geht mit völliger Missachtung der Belastbarkeit der empfindlichen, lokalen Ökosysteme vor. Mit ausufernder organischer Vergiftung durch Futtermittel und Fäkalien, generiert es akute Eutrophierungen, die der marinen Umwelt extrem hohe Phosphor- und Stickstoffmengen zuführen und die explosionsartigen Algenblüten beschleunigen. Jede Tonne gemästeter Lachse gibt jährlich 72 Kilogramm Stickstoff an das Seewasser ab, was vergleichsweise dem Stickstoffausstoß von 19.000 Menschen entspricht.

Die gesamte chilenische Küste ist größter Gefahr ausgesetzt. Die sog, "rote Flut" hat längst die Fjorde und Binnengewässer-Kanäle verlassen, breitet sich an der Küste aus und strömt hinaus auf offene See. Sie bedrohe die öffentliche Gesundheit, die Biodiversität, die Arbeit und das Leben der chilenischen Küstengemeinden, warnt der chilenische Meeres-Aktivist.

Epilog

Was Huismanns Film-Epilog nur andeutet, erzählte mir der Regisseur persönlich. Nämlich dass das Aufnahmeteam monatelang mit “Marine Harvest” über ein Interview mit John Frederiksen verhandelt hat – doch vergeblich. “Der große Wolf” beantwortet keine Fragen.

So blieb er bis zur Schlussszene – als er vom auflauernden Kamerateam beim Gang in ein Restaurant ertappt wird - die Antwort schuldig, wie kam der ISA-Virus nach Chile - der Erreger der “Infektiösen Lachsanämie” oder Blutarmut (engl. Infectious Salmon Anemia Virus), die zu Beginn des neuen Milleniums die patagonische Küste mit ihrem Flussdelta verseucht hat.

Frederiksens lapidare, zynische Antwort: "Mit den Entscheidungen vor Ort bin ich nicht befasst".