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Angeregte Stimmung im und um das Europäische Parlament. Scharen vorwiegend junger Teilnehmern stehen am Montagmorgen ab 7 Uhr Schlange, um ihre Eintrittskarte zu ergattern. Sie gehörten zu den mehr als 2000 Personen, die sich für die im Hybridmodus abgehaltene Konferenz "Beyond Growth" im Europäischen Parlament angemeldet hatten. Nur etwa die Hälfte konnte persönlich teilnehmen. Thema der mehrtägigen Veranstaltung: Wie können wir alle ein menschenwürdiges Leben innerhalb der Grenzen des einen Planeten führen, den wir mit den Organismen auf dem Land, im Meer und mit unseren Mitbürgern überall teilen müssen?

Dieses zentrale Anliegen der Konferenz hat sowohl die beeindruckende Auswahl der geplanten Redner aus Politik, Forschung, Think Tanks, Interessenverbänden und Gewerkschaften als auch die Teilnehmer in ihren Bann gezogen, letztere hatten ab 7 Uhr an diesem Montagmorgen angestanden, um einen Platz zu bekommen. Der Hauptorganisator Philippe Lamberts, Vorsitzender der Grünen im EP, begrüßte die Redner und Teilnehmer.

 

Im Gegensatz zur ersten Konferenz dieser Art vor fünf Jahren waren dieses Jahr nicht mehr nur politische Gruppen an der Organisation beteiligt, sondern auch die Spitzenvertreter der Europäischen Kommission, darunter Präsidentin Ursula von der Leyen. Die Atmosphäre war elektrisierend, vor allem als prominente Redner die wichtigsten Fakten, die die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der Volkswirtschaften belegen, mit praktischen Vorschlägen verbanden, die auch auf politischer und institutioneller Ebene umgesetzt werden können.

Ein zentraler Punkt war die Änderung des Ansatzes vom "ewigen" BIP-Wachstum zum sozialen Wohlstand. Das BIP misst alle wirtschaftlichen Aktivitäten, unabhängig davon, ob sie positiv oder nachteilig für die Menschen und den Planeten sind. Es sagt nichts über das menschliche Wohlergehen und den Zustand unseres Planeten aus. Es ist an der Zeit, neu darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. In diesem Kontext stellt sich die Frage, warum z.B. die Lebenserwartung in den reichen Ländern zum Erliegen kommt oder schrumpft. Im Gegensatz dazu scheinen die Menschen auf einigen griechischen Inseln mit sehr begrenzter Infrastruktur und Konsumanreizen, wie z. B. auf Ikaria, "das Sterben zu vergessen"? Wie der Forscher Giorgos Kallis feststellte, gibt es darauf eine Antwort, die vielleicht nicht überall, aber auf jeden Fall auf Ikaria funktioniert: viel Zeit zum Leben, Reden und Feiern. Nicht, dass die Menschen auf der Insel nicht hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssten, aber ihr wenig belastender Lebensstil sorgt für ein gutes Leben, für Wohlstand mit wenig in einem lokal funktionierenden System, das nicht im Namen der Modernität zerstört wird. Dieser Zusammenhang ist zu erkennen, wenn man sich mit offenen Augen und offenem Geist umschaut.

Dr. Yamina Saheb von Sciences Po in Paris und Hauptverfasserin des IPCC AR6, plädierte für die Anwendung des Suffizienzprinzips als Grundlage für die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Zielvorgaben, die auf das Allgemeinwohl ausgerichtet sind. Wie ist dies zu definieren? "Suffizienzpolitik umfasst eine Reihe von Maßnahmen und Alltagspraktiken, die eine übermäßige Nachfrage nach Energie, Materialien, Land und Wasser vermeiden und gleichzeitig das menschliche Wohlergehen für alle innerhalb der Grenzen des Planeten gewährleisten."

Sie bezweifelte, dass das von der EU-Kommission geförderte sog. grüne Wachstum den Test bestehen würde, und äußerte sich besorgt über die sich verschlechternden Lebensbedingungen für viele Menschen sogar in Europa. Zur Illustrierung dieses Punktes wies sie auf die Tatsache hin, dass ihre Mutter, die jetzt Anfang 70 ist, dank der Klimaanlage, die sie sich leisten konnte, die Hitzewellen in Paris überstanden hat. Sie selbst hatte jedoch 2021 sehr unter einer Hitzeperiode zu leiden, als sie in einem Krankenhaus ohne Klimaanlage entbunden hatte. Besonders besorgt war sie über das zu befürchtende Szenario, dass sich ihr Sohn in einigen Jahren Sorgen um ausreichend Nahrung und Wasser machen müsste, wenn die Temperaturen über die menschliche Anpassungsfähigkeit, d. h. über 2 °C, hinaus ansteigen würden. Werden wir dann heftige Kämpfe um die Befriedigung der Grundbedürfnissen erleben, weil das Ökosystem der Erde völlig aus dem Ruder gelaufen ist?

Sie erhielt stehende Ovationen, weil sie die Wissenschaft in eine Sprache und Szenarien übersetzte, die anschaulicher und leichter zu verstehen sind als einige der Zahlen und Grafiken, die direkt aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen übernommen wurden.

Timothée Parrique von der Universität Lund, Schweden, erläuterte fünf Arten der Abkopplung wirtschaftlicher Aktivitäten vom Anstieg des Energie- und Materialbedarfs. Er schlug vor, das BIP um 1 bis 2 % pro Jahr zu senken, um bis 2030 eine 55 %ige Reduzierung der CO2-Emissionen zu erreichen. Das scheint durchaus machbar zu sein, um die Wirtschaft aus dem ökologischen Overshoot herauszuführen und den Wohlstand vom Überkonsum abzukoppeln. Sein wichtigster Rat war, sich um mehr Einfachheit zu bemühen, was Yamina Saheb aufgreift. Eine Konzentration auf Suffizienz könnte die Ambitionen auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse und auf Fairness neu ausrichten.

 

Eine Verringerung der Ressourcennutzung sei auch deshalb dringend erforderlich, um Sicherheitsrisiken zu begegnen, die durch die übermäßige Abhängigkeit von kritischen Mineralien aus wenigen Ländern entstehen, so Olivia Lazard von Carnegie Europe. Sie warnte, dass das rasante Wachstum der IT-Industrie nicht zur Dekarbonisierung der Wirtschaft beitrage. Im Gegenteil, es würden immer mehr Ressourcen benötigt. Sie warnte vor den vielfältigen Risiken und sprach sich dafür aus, einen weiteren Raubbau in Afrika wie zu Kolonialzeiten zu verhindern, dieses Mal im Namen von "grünem Wachstum" oder einer "grünen Wirtschaft".

Das Verständnis der biophysikalischen Grenzen des Wachstums ist eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau einer Wirtschaft, die die globalen Belastungsgrenzen respektiert. Johan Rockström, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, war in diesem Punkt eindeutig. Die vier sich überschneidenden Krisen - die Klimakrise, die ökologische Krise, die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine - verursachten bereits jetzt hohe soziale und wirtschaftliche Kosten durch die Überschreitung von 6 der 9 definierten planetarischen Grenzen. In seiner nüchternen Art erinnerte er die Zuhörer daran, dass der Anstieg der thermischen Energie des Ozeans zwischen 1971 und 2018 mehr als 90 % der überschüssigen Wärmeenergie der Erde durch die globale Erwärmung ausmacht. Das bringt uns in die Nähe von fest vorgegebenen Kipppunkten, die das Ökosystem der Erde in eine völlig andere Dynamik bringen werden. Wir stehen bereits kurz davor oder haben vielleicht sogar schon vier von ihnen überschritten. Zum Beispiel im Hinblick auf das westantarktische Eisschild und die grönländischen Gletscher. Auf jeden Fall wolle er zu entschlossenen Gegenmaßnahmen aufrufen.

Mit "Business as usual" oder einem schnellen "Technofix" ist es nicht getan. Wir stehen vor großen Umwälzungen. Die Frage ist, wie wir diese in einer Weise gestalten können, die sowohl für die Menschen als auch für unseren Planeten von Vorteil ist.


Blue Doughnut - Regenerieren und schützen - für einen gesunden Ozean

Was wird aus dem Ozean, der etwa 70 % der Erdoberfläche bedeckt und bei weitem das größte zusammenhängende Ökosystem ist?

Der Blue Doughnut stand im Mittelpunkt einer Sitzung an Tag 2 der Konferenz, die von Seas at Risk organisiert und vom sizilianischen Europaabgeordneten Dino Giarusso moderiert wurde. Monica Verbeek, Exekutivdirektorin von Seas at Risk, eröffnete die Podiumsdiskussion mit einem Aufruf, den Ozean in die Diskussion einzubeziehen, um seine fundamentale Bedeutung für die Luft, die wir atmen, das Klima, die Ernährung, die Arbeitsplätze, die Erholung und vieles mehr zu würdigen. Die Entwicklung eines guten Verständnisses der biophysikalischen Grenzen des Ozeans als äußere Begrenzung des Doughnuts und der menschlichen und sozialen Dimensionen als innere Begrenzung steckt noch in den Kinderschuhen.

Kate Raworth von der Universität Oxford und Urheberin des ursprünglichen "Doughnut"-Konzepts schlug vor, die Grundprinzipien je nach Bedarf anzupassen und zu verändern, um die Regeneration und Gesundheit der Ozeane voranzutreiben. Sie schlug außerdem vor, fünf Kriterien für die Zusammenarbeit mit Unternehmen der maritimen Wirtschaft zu verwenden:
(1) Zweck - im Dienste des Ökosystems?
(2) Netzwerke - Qualität der Beziehungen,
(3) Unternehmensführung - wer hat ein Mitspracherecht und welche Maßstäbe werden zur Erfolgsmessung verwendet?
(4) Eigentumsverhältnisse - Familie, Aktionäre, Mitarbeiter, Genossenschaft?
(5) Finanzen - wie hoch ist die erwartete Rendite im Sinne des Unternehmenszieles?

Hans Bruynickx, Exekutivdirektor der Europäischen Umweltagentur (EUA), erinnerte die Teilnehmer in seiner zurückhaltenden, aber eindringlichen Art und Weise daran, dass die Isolierung des Ozeans von Maßnahmen zur Bewältigung des Wandels nicht mit den beobachteten Realitäten vereinbar sei. Alles andere als ein Ökosystemmanagement sei inakzeptabel. Er kritisierte scharf den Widerstand gegen den dringenden Schutz der Meere und plädierte dafür
- Bohrungen im Meer zu stoppen
- die Verklappung von Abfällen in den Ozean zu unterbinden
- die Erschöpfung der erneuerbaren Meeresressourcen zu beenden
- die "Entwicklung" zu unterlassen, wenn sie negative Auswirkungen auf den erschöpften Ozean hat
- die Aufteilung und Zerstörung der globalen Gemeingüter zu verhindern.

Direktorin des Global Centre for Social Sustainability in Seafood Supply an der Heriot Watt University in Edinburgh, ergänzte die Ausführungen mit einem eindringlichen Plädoyer für die handwerklichen Fischer, Männer und Frauen, die 95 % der Arbeitskräfte in diesem Sektor stellen. Abgesehen von den Missbräuchen im Zusammenhang mit der illegalen, unregulierten und unregistrierten Fischerei (IUU-Fischerei) seien die Fischer und Fischverarbeiter vielerorts auch Opfer von Überfischung und schlechten Arbeitsbedingungen. Außerdem wurden riesige Mengen der wertvollen Ressource verschwendet, anstatt den gesamten Fisch systematisch zu nutzen.

Wir können dem nur zustimmen und unterstreichen die entscheidende Bedeutung von Fisch, insbesondere von kleinen pelagischen Schwarmfischen wie Sardinen, Sardellen, Makrelen und Stöcker für eine ausgewogene Ernährung im globalen Süden. Eine Studie zu diesem Thema hat kürzlich hohe Wellen geschlagen (1).

 

Trotz der jüngsten Bemühungen, die handwerkliche Fischerei zu thematisieren (2), ist es vielleicht noch nicht allgemein bekannt. Aber der Elefant im Raum ist der Seeverkehr. Christiaan de Beukelaer von der Universität Melbourne ist ein langjähriger Forscher, der die Branche beobachtet, die weltweit der siebtgrößte Emittent von Treibhausgasen ist, gleichauf mit Deutschland. Entgegen dem Image der Schifffahrtsindustrie als "Diener des Handels" haben de Beukelaers Untersuchungen ihn davon überzeugt, dass die Schifffahrt globale Ungleichheiten aufrechterhält. Warum eigentlich? Weil die Schifffahrt viel zu billig ist und unter dem Mantra, ein "Diener des Handels" zu sein, in den letzten 30 Jahren nicht einmal im Kyoto-Protokoll und anderen globalen Klima- und Nachhaltigkeitsabkommen erwähnt wurde. Dennoch belaufen sich seine Emissionen auf 1 Milliarde Tonnen CO2 pro Jahr. Zum Vergleich: Die eine Milliarde Menschen in Afrika verursachen 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr.

Es hat viel Druck gebraucht, bis sich die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) in London auf das Ziel einigte, bis 2050 keine Emissionen mehr zu verursachen. Das scheint zu wenig und zu spät zu sein. Welche Möglichkeiten zur Verringerung gibt es? Zunächst einmal betrachtet die IMO im Sinne der Klimaneutralität nur das technische Wie. Es wäre jedoch sinnvoll, sich damit zu befassen, WAS transportiert wird, WIEVIEL und WOZU. Während einige sagen, man solle den Markt entscheiden lassen, sieht es bei einem jährlichen Transportvolumen von etwa 11 Milliarden Tonnen sehr danach aus, als sei die Seeschifffahrt der " Ermöglicher des Handels " und nicht sein " Diener ".

Könnte die Schifffahrt in diesem Fall zu einem "Mitregulator des Handels" werden? Zumindest einige Dinge werden sich ändern. Auf der bevorstehenden IMO-Tagung im Juli 2023 werden Diskussionen über den unvermeidlichen Kostenanstieg erwartet. Während dies für Europa wahrscheinlich nur geringfügige Auswirkungen haben wird, könnte dies für den globalen Süden größere Schwierigkeiten bedeuten. In diesem Zusammenhang fordern einige pazifische Länder eine globale Abgabe für die Schifffahrt in Höhe von 100 USD pro Tonne transportierter Güter. Dies würde zu einem globalen Fonds von etwa 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr führen, der für einen gerechten Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft und zur Entschädigung für Verluste und Schäden verwendet werden soll.

Wird das ausreichen, um eine reduzierende Wirkung zu erzielen? Für einen Industriezweig dieser Größe und Bedeutung mag das nicht ausreichen, aber es wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

(1) Hicks, C.C., Cohen, P.J., Graham, N.A.J. et al. 2019. Harnessing global fisheries to tackle micronutrient deficiencies. Nature574pages 95–98 (2019https://www.nature.com/articles/s41586-019-1592-6 

(2) ​FAO, Duke University, WorldFish, 2023. Illuminating Hidden Harvests.The contributions of small-scale fisheries to sustainable development. Rome, ​FAO https://doi.org/10.4060/cc4576en

 


Fortschritte auf dem Weg zu Suffizienz und Lebensqualität

Das Ziel der Konferenz bestand eindeutig darin, über die Diagnose hinauszugehen und Wege zur Überwindung der zunehmenden Ungleichheit innerhalb der Weltbevölkerung aufzuzeigen. Die Aneignung ungeheuren Reichtums durch das obere 1 % der Weltbevölkerung, das für den Großteil der Klimagasemissionen und des Materialverbrauchs verantwortlich ist. Es macht mehr aus als die unteren 40 %. Daher ist das Ziel " mehr als nur Wachstum". Etliche Redner bezeichneten die immer noch wachsende Ungleichheit als entscheidende Triebfeder, die sich auf alle physikalischen, chemischen und biologischen Konsequenzen auswirkt. Diese Konsequenzen in abgeschwächter Form spüren selbst die Europäer in Form von Hitzewellen, Pandemien, Wasserknappheit nicht nur im Mittelmeerraum und in Form der Notlage wirtschaftlich schwacher Gruppen. Wie kann es als akzeptabel angesehen werden, dass mehr als 260 Milliarden USD als Dividenden ausgeschüttet wurden, während die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer angesichts einer oft zweistelligen Inflation nur um 4 % gestiegen sind?

Wie sieht es also mit strukturellen Abhilfemaßnahmen aus?

Die Entkolonialisierung der internationalen Beziehungen im Handel und in internationalen Organisationen war ein Thema, das von vielen Rednern aufgegriffen wurde, mit dem Ziel tief verwurzelte Ungerechtigkeiten nicht nur im globalen Süden, sondern auch für sozial schwache Gruppen in Europa zu beseitigen. Ein Redner nach dem anderen führte Beispiele an, wie koloniale Regime einst die Möglichkeiten von Menschen und Unternehmen in den kolonisierten Ländern beschnitten haben und wie diese Bedingungen lange Schatten auf die modernen Handelsbeziehungen werfen, die von internationalen Konzernen und vielen Regierungen aufrechterhalten werden. Diese fortbestehenden Ungerechtigkeiten kosten Menschenleben, wie zuletzt bei der Covid-19-Pandemie zu sehen war.

Wir erkennen diese Zusammenhänge auch auf dem Meer: Industrieflotten, die die Gewässer afrikanischer und lateinamerikanischer Länder plündern, oder Bergbaufirmen, die den Tiefseebergbau vorantreiben, um den Raubbau an Rohstoffen fortzusetzen, während bereits sechs von neun globalen Belastungsgrenzen überschritten werden. Und Meereslebewesen, die an Plastik und anderen Abfällen, die ins Meer entsorgt werden, zugrundegehen.

 

Wie kommt es, dass die Finanzminister der G7 mehr Stimmrechte im Internationalen Währungsfonds (IWF) haben als die Finanzminister der Länder des globalen Südens? Wie kommt es, dass Handelsregeln die Wirtschaft in Ländern des globalen Südens, die stark exportorientiert sind, nach wie vor darauf ausrichten, die Bedürfnisse Europas und anderer Industrieländer zu befriedigen und nicht die ihrer eigenen Bevölkerung? Wie kommt es, dass nur 12 % der Produkte und Materialien am Ende ihrer Nutzungsdauer recycelt werden, während die Jagd nach immer aggressiverem Bergbau und Rohstoffabbau für den unstillbaren Energie- und Materialhunger der Industrie weitergeht?

Brauchen wir schnelle Mode, mehr und schwerere Autos, den schnellen Austausch einer stetig steigenden Zahl elektronischer Geräte, den Run auf immer exotischere Materialien und seltene Erden? Wir stellen fest, dass jeder sogenannte Effizienzgewinn bei neueren Technologien durch einen höheren, sogar exorbitanten Bedarf an Energie und materiellen Ressourcen überkompensiert wird. Wir sollten uns fragen, was wir wirklich brauchen, um glücklich und gesund zu sein. Angstsyndrome und ernsthafte psychische Probleme bei 25 % der Bevölkerung in Europa und den USA sind ein Aufruf, innezuhalten und zu überdenken, wie wir heute leben und wie eine bessere Zukunft aussehen könnte.

Viele Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass, sobald die Grundbedürfnisse befriedigt sind, bereichernde soziale Kontakte und Beziehungen uns Gesundheit und Glück bescheren. Dann stellt sich die Frage: Wenn wir die Diktatur des ewig wachsenden Bruttoinlandsprodukts der Vergangenheit angehören lassen, wie können wir dann die sozialen Dienste von der Rente über die Gesundheitsversorgung bis hin zur Bildung aufrechterhalten? Wie können wir den nutzlosen und umweltverschmutzenden Teil des Überkonsums reduzieren, ohne den Wohlstand aufzugeben, und dem Wirtschaftswachstum im globalen Süden Raum geben, um auch dort die Grundbedürfnisse aller zu erfüllen?

 

Die Schätzungen für die Anfangsinvestitionen in diese Umstrukturierung der Wirtschaft lagen in der Größenordnung von 520 Milliarden USD pro Jahr. Jemand sprach sogar von 900 Milliarden USD. Das würde viele Menschen vor Schaden bewahren und uns zu Produktions- und Konsummustern zurückführen, die innerhalb der globalen Grenzen liegen, insbesondere auch im Hinblick auf das notwendige Wachstum zur Befriedigung ungedeckter Grundbedürfnisse im globalen Süden, während gleichzeitig die Kontinuität der Sozialsysteme in Europa gewährleistet würde. Die Forschung weist darauf hin, dass ein Großteil dieser Investitionen für private Investoren uninteressant ist und daher aus öffentlichen Mitteln finanziert werden muss.

Wenn wir den tiefsten menschlichen Bedürfnissen nach Gesundheit und Zugehörigkeit gerecht werden wollen, wenn wir uns auf eine Wirtschaft der Fürsorge zubewegen wollen, dann ist dies ein tragfähiges Grundkonzept für eine lebenswerte Zukunft und nicht ein Begleitprogramm für Randgruppen. Tim Jackson, Direktor des Instituts für das Verständnis von nachhaltigem Wohlstand (CUSP) an der Universität Surrey, ließ keinen Zweifel daran, dass es für den Erfolg des Narrativs unabdingbar ist, dem Argument der Unmöglichkeit zu begegnen, das immer wieder vorgebracht wird, um den Wandel zu sabotieren. Es brauche ein Bewusstsein des Kampfes für die Zukunft, um die Energie aufzubringen, die nötig sei, das Durchhaltevermögen, die Medienmacht und die Fake News zu überwinden, mit denen das obere 1 % arbeitet.

Das Programm ist hier abrufbar; die Aufzeichnungen der sieben Plenarsitzungen und 20 parallelen Fokus-Panels werden in Kürze auf der EP-Website verfügbar sein. Dies wird vielleicht dazu beitragen, dem ohrenbetäubenden Schweigen der meisten Massenmedien zur Konferenz entgegenzuwirken.


Die Vorträge und Diskussionen warfen die Frage auf, wie es weitergehen soll. Vielleicht kann eine Konferenz sie nicht beantworten, aber sie sollte viele runde Tische und Dialogforen mit einem möglichst breiten Teilnehmerkreis anregen, um zu prüfen, was in jeder Stadt, Region und jedem Land getan werden könnte. Lassen wir die verschiedenen Erfahrungen aufeinander treffen, ja sogar aufeinanderprallen. Die Menschen sollten versuchen, ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit den Erkenntnissen der Wissenschaft zu verbinden, um Lösungen zu finden. Oft kann die Weisheit der Menge helfen, Wege aufzuzeigen, wenn die Probleme, um die es geht, uns alle betreffen.

Einige Jugendgruppen waren dieser Meinung und hielten in der Schlusssitzung ihre handgefertigten Plakate mit ihren Forderungen hoch. Dabei wird es nicht bleiben. Die Umstrukturierung der Rohstoffindustrie und der Institutionen, die die gegenwärtigen Systeme stützen, in Angriff zu nehmen, ist eine Mammutaufgabe, die gute Planung, Organisation, Energie und Ausdauer erfordert. Die dynamischen Atmosphäre auf der Konferenz hat sicherlich einiges dazu beigesteuert und wird als Inspiration für die nächsten praktischen Schritte dienen, von lokal bis global, über alle Sektoren und Interessengruppen hinweg.

Text mit Konferenzeindrücken und Bildern von Cornelia E. Nauen, sofern nicht anders angegeben. Deutsche Übersetzung von Claudia Mense.